Der ehemalige Sozialrichter Dr. Jürgen Borchert, der sich ein Leben lang wissenschaftlich und beruflich mit dem deutschen Rentenrecht befasst hat, charakterisierte die „große Rentenreform von 1957“ so:
„Während Kinderlose, deren Renten realwirtschaftlich ausnahmslos von den Kindern anderer Leute aufzubringen sind, so die großen Gewinner der Reform waren, wurden vor allem die Mütter durch das neue System um ihre originären und genuinen Ansprüche auf Altersunterhalt geprellt“ (1).
Zu ergänzen ist allerdings, dass nicht nur die Mütter, sondern auch
die Väter „geprellt“ wurden, da sie in der Regel die Benachteiligung der
Mütter mittragen. Weiter ist festzustellen, dass jede Benachteiligung
von Eltern sich über kurz oder lang auch zum Nachteil ihrer Kinder
auswirkt. Es geht also nicht um eine „Hetze gegen Kinderlose“, sondern
um die Zukunft unserer Gesellschaft.
Die Nachteile für Familien lassen sich als Geldbeträge berechnen.
Wenige Jahre nach dieser „Reform“ stürzten die Geburtenzahlen ab. Es kann als sicher gelten, dass die psychologischen Ursachen hierfür zumindest zum großen Teil in der erfolgten Umverteilung finanzieller Mittel zum Nachteil der Eltern lagen. Das mag den meisten Eltern nicht bewusst geworden sein, wurde aber sicher beim Vergleich mit kinderlosen Nachbarn und Arbeitskollegen gespürt. Um die Hintergründe zu verschleiern, wird oft von Politik und „Mainstream-Medien“ eine „Förderung der Familie“ konstruiert, indem der Familie zufließende Beträge gezählt oder sogar erst erfunden werden, aber die den Familien entzogenen Beträge unbeachtet bleiben (2).
Der Hintergrund ist einfach zu erklären: In der klassischen Familie sorgten die Eltern für ihre Kinder und wurden dafür im Alter oder bei Krankheit wieder von ihren erwachsenen Kindern versorgt. Dieser familiäre Generationenvertrag wurde durch unsere Sozialgesetzgebung zerstört, indem der Rentenanspruch gegenüber den Kindern von der Kindererziehung gelöst und an Erwerbsarbeit gebunden wurde.
Seitdem gilt der Grundsatz: Eltern investieren, „Nur-Erwerbstätige“ profitieren.
Von diesem Zeitpunkt an hatten die Eltern gegenüber ihren eigenen Kindern weniger Ansprüche als ihre kinderlosen Nachbarn. Erst diese Enteignung der Eltern zerstörte die wirtschaftlichen Grundlagen der Familie und beschädigte damit massiv auch deren ideelle Basis.
Unbefriedigender Rechtsstaat
So weit so schlecht. Aber das ist mit dem laut GG geforderten „besonderen Schutz der Familie“ nicht vereinbar. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts und spätere Bundespräsident, Roman Herzog, äußerte sich dazu so:
„Es kann nicht sein, dass ein Ehepaar — bei dem nur der eine ein Leben lang ein Gehalt oder einen Lohn einsteckt — Kinder aufzieht und am Ende nur eine Rente bekommt. — Auf der anderen Seite verdienen zwei Ehepartner zwei Renten. Und die Kinder des Paares, das nur eine Rente bekommt, verdienen diese beiden Renten mit. Das ist ein glatter Verfassungsverstoß“ (3).
Aber wie kann es sein, dass eine — fast die ganze Bevölkerung betreffende — verfassungswidrige Gesetzgebung über Jahrzehnte Bestand hat, ohne dass es nennenswerte politische Initiativen gibt, das zu ändern? Bemühungen, die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ausgingen, hat es durchaus gegeben. So wurde im Urteil zur Pflegeversicherung vom 3. April 2001 die Benachteiligung der Eltern ausdrücklich gerügt (4) und der Gesetzgeber beauftragt, neben der Pflegeversicherung auch die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung zu überprüfen und Benachteiligungen der Eltern abzubauen. Aber diese Aufträge wurden von der Politik ignoriert und das BVerfG hat keine eigenen Zwangsmittel, sie durchzusetzen.
Ginge es hier um die Rechte von Konzernen statt um Grundrechte der Eltern, wären die Forderungen des GG sicher schon durchgesetzt worden.
Aber Familien haben in unserer Gesellschaft keine vergleichbare Lobby, zumal die Interessen der Kinder bei Wahlen gar nicht abgebildet werden und damit Familien von vornherein weniger Einfluss haben, als ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Wegen der zeitlichen Überforderung durch Erziehungs- und Erwerbsarbeit wird ihnen auch auf politischer Ebene die Vertretung ihrer Interessen erschwert.
Woran soll sich der Staat aber orientieren, um den Schutzauftrag des GG zu erfüllen? Wie bereits erwähnt, ist jeder Eingriff, der zu einer Umverteilung zulasten der Familien führt, mit diesem Schutzauftrag unvereinbar. Der Ausgangspunkt kann nur der „natürliche“ Zustand sein, wie er vor den Eingriffen des Gesetzgebers ins soziale Geschehen bestand. Damals waren sowohl die Kosten der Kinder als auch deren wirtschaftlicher Nutzen in Form der Versorgung bei Krankheit und Alter eine Angelegenheit der Eltern.
Der Auftrag des Grundgesetzes kann es nur sein, ein Gleichgewicht zwischen den Leistungen der Familien für die Gesamtgesellschaft und den Leistungen dieser Gesellschaft für die Familien zu schaffen. Das ist keine Finanzierungsfrage, sondern eine Verteilungsfrage zwischen Familien und Gesellschaft. Der Umfang der Rückverteilung kann weder durch Juristen noch durch Politiker bestimmt werden, sondern nur durch sachbezogene Berechnungen von Sozioökonomen.
Eine Symbolpolitik wie etwa bei der Pflegeversicherung durch Anhebung des Beitragssatzes um 0,25 Prozent für Erwerbstätige ohne Kinder oder im Rentenrecht durch Anerkennung von 2 bis 3 Erziehungsjahren, erfüllen diesen Auftrag nicht. So müsste etwa ein Elternteil selbst bei drei Erziehungsjahren 15 Kinder erziehen, um eine „Standardrente“ — Rente bei 45 Erwerbsjahren mit Durchschnittsverdienst — zu erhalten. Dabei hätte diese Mutter, oder der Vater, für die Erziehungsarbeit nicht einmal einen Lohn erhalten wie Erwerbstätige, die bei weit geringerer Arbeitsleistung eine „Standardrente“ erhalten. — Mit einer Begutachtung zum erforderlichen Umfang der Korrektur sollten unabhängige Wissenschaftler beauftragt werden, die sich nur der Wirklichkeit und keiner politischen Richtung verpflichtet fühlen.
Die Aufgabe der Politik wäre es dagegen festzulegen, auf welche Weise das Gleichgewicht zwischen Familien und Gesellschaft wieder herzustellen ist. Die Rechtsprechung hätte dann darüber zu urteilen, ob der Umfang der gesetzlichen Maßnahmen ausreicht, um den vom Grundgesetz geforderten „Schutz der Familie“ zu erfüllen.
Darf der Staat überhaupt eingreifen?
Allerdings sollte dem Staat nicht grundsätzlich jeder Eingriff ins soziale Geschehen verweigert werden. Es gibt gute Gründe, soziale Risiken durch auf Solidarität beruhende Versicherungen zu mindern. So können zum Beispiel sowohl Eltern als auch Kinder vorzeitig sterben oder erkranken und so als soziale Sicherung für alte Eltern oder verwaiste Kinder ausfallen. Aber der Schutzauftrag des GG untersagt dem Staat, den Gewinn an sozialer Sicherheit mit einer Umverteilung zulasten der Familien zu verbinden. Dieser Grundsatz wurde aber, zumindest seit der Rentenreform 1957, in großem Umfang missachtet.
Die Idee des Umlageverfahrens — die Erwerbstätigen zahlen die Renten der Alten — geht auf den Soziologen Wilfrid Schreiber zurück. Sie ist gar nicht so falsch. Aber für Schreiber war das nur eine Hälfte des Gesamtsystems. Ihm war klar, dass das nur dann gerecht sein und auf Dauer funktionieren kann, wenn es im Gegenzug ein vergleichbares Umlageverfahren zugunsten der Kindererziehung gibt. Das heißt: Die Erwerbstätigen tragen auch gemeinsam die Kinderkosten. Erst Adenauer verzichtete auf diese Gegenleistung, weil er das für seinen Wahlerfolg nicht für erforderlich hielt. Er setzte damit die Zerstörung der Familie in Gang, vermutlich ohne darüber nachgedacht zu haben.
Zusammengefasst: Die klassische Familie praktizierte einen echten Generationenvertrag zwischen Eltern und Kindern, der durch Geben und Nehmen bestimmt war. Er enthielt allerdings bezogen auf die einzelne Familie auch Risiken. Um diese Risiken zu mindern, sind versicherungsrechtliche Regelungen geeignet und gerechtfertigt. Sie dürfen aber nicht mit einer Enteignung der Eltern erkauft werden, wie es durch unsere Sozialgesetzgebung geschieht.
Das heutige Umlageverfahren, das eine Generation zur Alterssicherung der vorangegangenen Generation verpflichtet, ohne dass eine Gegenleistung vorangeht, ist kein „Generationenvertrag“, sondern ein Betrug an Eltern und Kindern und damit ein klarer Verstoß gegen Artikel 6 GG.
Das zerstört nicht nur die Familien selbst, sondern die sozialen Grundlagen unserer Gesellschaft schlechthin.
Korrekturversuche der Politik
Die volkswirtschaftlichen Folgen dieser Fehlentwicklung in Form zunehmenden Arbeitskräftemangels aufgrund des Geburtenrückgangs wurden von der Politik — wenn auch viel zu spät — seit etwa 20 Jahren erkannt. Als Lösungskonzept gilt die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Gemeint ist die weitgehende Auslagerung von Kinderbetreuung aus der Familie, damit beide Eltern möglichst voll erwerbstätig sein können, um den sozialen Abstieg zu mindern. Die Folge ist die Aushöhlung des Erziehungsrechts der Eltern, wie es in Artikel 6, Absatz 2 im GG verankert ist.
Auch diese Bevormundung der Eltern wurde in einem früheren Urteil des BVerfG untersagt (5). Da Eltern mit massivem wirtschaftlichen Druck in die politisch gewünschte Richtung gedrängt werden, entfällt ihre Wahlfreiheit. Viele Eltern, besonders Mütter, werden durch Doppelbelastung überfordert. Die vorzeitige Berentung wegen psychischer Erkrankungen nahm seit dem Elterngeldgesetz von 2007 — das die Eigenbetreuung der Kinder regelrecht bestraft —, besonders bei Frauen massiv zu (6). Das dürfte kein Zufall sein.
Am schlimmsten ist allerdings, dass diese Politik keine Rücksicht auf das Wohl der Kinder nimmt. Nach allem, was wir heute wissen, sind die Risiken für die kindliche Entwicklung am geringsten, wenn Kinder in den ersten Lebensjahren eine feste Bindung zu ihren Eltern entwickeln können. Die gegenwärtige Politik wirkt dem massiv entgegen.
Verblüffend ist, dass unsere heutige Familienpolitik nahezu vollständig mit der in der DDR übereinstimmt, wenn auch mit unterschiedlichem ideologischem Hintergrund.
In der DDR war es das marxistische Denken, das die Erwerbsarbeit zum Maßstab aller Dinge machte. Heute ist es mehr das auf kurzfristigen Profit ausgerichtete neoliberale Denken. Gemeinsam ist beiden, dass die Erziehungsleistung der Eltern völlig unterbewertet wird, Eltern bevormundet werden und das Kindeswohl keine Rolle spielt.
Mögliche Alternativen
Als Reaktion auf diese vielfältigen Fehlentwicklungen wird heute von mancher Seite gefordert, dass sich der Staat wieder aus der Sozialgesetzgebung zurückziehen solle. Aber das ist unrealistisch. Schließlich hat der gesellschaftliche Ausgleich individueller sozialer Risiken durchaus einen Sinn. Aber wenn das soziale Risiko „Alter“ einen Ausgleich auf gesellschaftlicher Ebene erfährt, dann hat das in gleichem Maße für das soziale Risiko „Elternschaft“ zu erfolgen. Beides gehört zusammen wie Ware und Preis oder Arbeit und Lohn.
Den Bedenken gegenüber einem „ausufernden Sozialstaat“ könnte dadurch begegnet werden, dass nur ein Teil, zum Beispiel die Hälfte, der Alters- und Kinderkosten vergesellschaftet und der andere Teil von den Betroffenen selbst getragen wird. Dann wäre nur dieser Anteil der Alters- und Kinderkosten von der Gemeinschaft gemeinsam zu tragen. Der restliche Anteil der Kinderkosten bliebe weiter bei den Eltern, die damit eine höhere Umlagerente erwerben würden. Erwerbstätige ohne Kinder müssten dann die gesparten Kinderkosten zur Absicherung ihres restlichen Altersrisikos verwenden.
Im Interesse der möglichst optimalen Entwicklungsbedingungen für die Kinder sollte der — zum Beispiel hälftige — Kinderkostenausgleich auf die ersten Lebensjahre konzentriert werden, die für die kindliche Entwicklung am wichtigsten sind. Allerdings darf das nicht mit einer Bevormundung der Eltern verbunden werden, sich an staatlichen Vorgaben zu orientieren, wie das heute durch die einseitige Krippenfinanzierung geschieht. Das auch im Grundgesetz verankerte Erziehungsrecht der Eltern darf nicht staatlich manipuliert werden. Ein Eingriffsrecht des Staates auf das Erziehungsrecht der Eltern ist nach dem GG nur bei Gefährdung des Kindeswohls zulässig.
Das ist auch gut so, weil Eltern in aller Regel die Rechte ihrer Kinder besser beachten, als der Staat dazu in der Lage ist. Wenn die Eltern in den ersten drei Lebensjahren den Betrag erhielten, den die öffentliche Hand heute für einen Krippenplatz bezahlt, dann könnten sie frei entscheiden, ob sie dieses Geld als Lohn für die eigene Erziehungsarbeit behalten oder damit eine Fremdbetreuung ihrer Wahl finanzieren. Eltern können in der Regel selbst am besten beurteilen, was in ihrer Situation für ihr Kind und für sie selbst optimal ist. Dieses Konzept wird zum Beispiel vom Verband Familienarbeit vorgeschlagen (7).
Gegen eine Bezahlung der Kinderbetreuung an die Eltern statt einer ausschließlichen Bezahlung der Fremdbetreuung wird oft eingewendet, das sei ein „falscher Anreiz“ für die „falschen Eltern“. Dem ist zu entgegnen, dass sich eine Honorierung der Erziehungsarbeit etwa bei aktuellen Hartz-IV-Empfängern am wenigsten auswirken würde, weil dann die Sozialleistungen entfielen. Die Honorierung der Erziehungsarbeit würde gerade bei Eltern im bisherigen Hartz-IV-Bezug einen Anreiz zu (mehr) Erwerbsarbeit zumindest eines Partners schaffen, da dann die Anrechnung des Erwerbseinkommens auf den Hartz-IV-Anspruch entfiele. Heute wird dagegen bei Mehr-Kind-Familien im Niedriglohnsektor der Wille zu Erwerbsarbeit erstickt, weil dadurch kaum ein höheres Einkommen erreichbar ist, als nach Hartz IV ohnehin zusteht.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Borchert, Jürgen; Der „Wiesbadener Entwurf“ einer familienpolitischen Reform des Sozialstaats 2002, S.31 http://starweb.hessen.de/elbib/hessen/allgemein/familienpolitik_wiesbadener_entwurf(1)2002.pdf
(2) „Der 200-Milliarden -Irrtum“, Spiegel 6/2013, S. 22
(3) „Gesichertes Leben“, Zeitschrift der LVA Baden; 4/1996, S. 4
(4) BVerfGE 103, 242, Leitsatz
(5) BVerfGE 99, 216, Randnummer 64.
(6) Bundespsychotherapeutenkammer, Studie zur Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit, S. 9
https://www.bptk.de/wp-content/uploads/2019/01/20140128_BPtK-Studie_Arbeits-und_Erwerbsunfaehigkeit-2013.pdf
(7) Rentenkonzept des Verband Familienarbeit e.V. http://familienarbeit-heute.de/?page_id=4661